Wenn ein Ort so gemischte Gefühle in einer einzigen Strophe provoziert, dann muss es schon ein besonderer Ort sein. Die Matsu-Inseln mit ihren etwa 20 Eilanden, die man oft mit einer Perlenkette vor der Mündung des Min-Flusses in der ostchinesischen Küstenprovinz Fujian verglichen hat, haben eine Fläche von etwa 29 Quadratkilometern und bestehen geologisch aus vulkanischem Gestein. Das Klima ist geprägt von Monsunregen im Winter und Nebel im Sommer. Das politische, wirtschaftliche und kulturelle Hauptzentrum der Inselkette ist die Insel Nankan(南竿).
Wegen ihrer atemberaubenden Landschaft ist die Inselgruppe zu einem Magneten für Spekulanten geworden, die nach einem entwicklungsfähigen Ferienort suchen. Das überwiegend gebirgige Terrain beherbergt eine einzigartige Mischung aus militärischen Einrichtungen, historischen Monumenten, traditioneller südchinesischer Architektur und sauberen Stränden. Viele Leute betrachten Matsu als potentielles Eldorado für Freizeitfischer, denn in zahlreichen tiefen Meeresgräben der benachbarten Gewässer gibt es einen reichen Bestand aus Wanderfischen und heimischen Fischen. Der Archipel weist eine üppige Flora und Fauna mit einigen seltenen Arten auf; bislang wurden über 250 Vogelarten registriert, die meisten von ihnen Zugvögel. Vergangenes Jahr wurden acht der Inselchen vom Landwirtschaftsrat der Republik China ( Council of Agriculture, COA) als zwölftes Wildtierschutzgebiet eingestuft.
In der Tat liegt Matsus größte Anziehungskraft vielleicht in seinen wildlebenden Tieren. Im August vergangenen Jahres richtete sich die Aufmerksamkeit einheimischer und internationaler Medien auf Matsu, als man auf einer der kleineren Inseln in vier Nestern acht Exemplare der gefährdeten Seevogelart Kleine chinesische Haubenseeschwalbe entdeckt hatte. Nach einer Schätzung des COA gibt es weltweit noch nicht einmal hundert Stück dieser im Jahre 1863 entdeckten Vogelart. “Die Kleine chinesische Haubenseeschwalbe kann man fast schon als mythisches Geschöpf bezeichnen”, fabuliert Lucia Liu, Wissenschaftlerin am Zoologieinstitut der Academia Sinica. “Niemand kennt ihre Brutgebiete, und über ihr Verhalten und ihre Ökologie sind keine Berichte dokumentiert.”
Das alles verstärkt noch den Ruf der Abgeschiedenheit und Mysteriösität, der Matsu umgibt. Ihren Namen hat die Inselgruppe von der in Taiwan hochverehrten Göttin des Meeres. Der Legende nach kam Matsu(媽祖) während der Sung-Dynastie (960-1279) als Tochter eines Fischers auf der Insel Meizhou direkt vor der chinesischen Küstenprovinz Fujian zur Welt. Während ihrer Kindheit entdeckte man an ihr außergewöhnliche Fähigkeiten sowie einen besonders tiefen liebevollen Gehorsam ihren Eltern gegenüber. Angeblich wurde sie auf Nankan, der größten Insel des Matsu-Archipels, bestattet, nachdem sie bei einem Rettungsversuch für ihren schiffbrüchigen Vater ertrunken war. Gläubige Einheimische errichteten zum Andenken an ihren Mut einen Tempel, und bis heute verehren die Fischer Matsu und schreiben ihr große und kleine Wunder zu, die sich auf See ereigneten.
Wie kommt es, dass die Matsu-Inseln trotz so vieler Vorzüge nicht schon längst zu einem Ferienort entwickelt wurden? Einheimische machen darauf aufmerksam, dass die Küstenlinie zwar wild und spektakulär ist, aber es nur wenige zum Schwimmen geeignete Strände gibt. Der eigentliche Grund ist aber die Militärpräsenz auf den Inseln. Wo Touristen ihre Füße auf Matsu auch hinsetzen, über kurz oder lang hören sie das rhythmische Stampfen marschierender Armeestiefel. Der Archipel liegt keine zehn Kilometer von der Küste des chinesischen Festlandes entfernt und wird seit nunmehr einem halben Jahrhundert massiv gegen eine mögliche Invasion der kommunistischen Truppen geschützt.
Die allgegenwärtige Präsenz der Streitkräfte hat unterschiedliche Folgen. Die auf Matsu stationierten Soldaten haben Straßen angelegt, Staudämme und sonstige Infrastruktur gebaut, alles auch zum Nutzen der einheimischen Zivilbevölkerung. Daneben wurde das karge Aussehen des vulkanischen Erstarrungsgesteins durch das Anpflanzen von Bäumen und anderem Grünzeug verschönert. Die meisten Insulaner waren Bauern, die Gemüse zogen und Geflügel und Vieh züchteten, einige sind es noch heute. Ihre Überschüsse verkauften sie den Beschaffungsoffizieren der Armee, und es entstanden auch ein paar kleine Dienstleistungsunternehmen für die Einheimischen und das Militärpersonal.
Das für Matsu zuständige lokale Verwaltungsorgan ist die Kreisverwaltung Lianchiang. Nach den Worten von Kreisvorsteher Liu Li-chyun sind die Bewohner Matsus sich permanent bewusst, dass sie im Prinzip an der Front leben. In den vergangenen Jahrzehnten mussten sie die Aggressionen des Festlandes ertragen -- manchmal wurde mit riesigen Lautsprechern Propaganda übers Meer posaunt, manchmal Granaten rübergeschossen, aber letzteres hat glücklicherweise schon vor recht langer Zeit aufgehört. Darüber hinaus wurde die Entwicklung der lokalen Wirtschaft immer den Erfordernissen der nationalen Sicherheit untergeordnet.
In den Jahren vor 1992 wurden die jährlichen Zuschüsse der Zentralregierung für Infrastrukturentwicklung auf 50 Millionen NT$ (1,78 Millionen Euro) beschränkt. Ab 1993 wurden sie langsam angehoben und betragen heute immerhin 2 Milliarden NT$ (71,4 Millionen Euro). Das ist immer noch weniger als die Beihilfen für Kinmen, eine südlich von Matsu gelegene andere küstennahe Inselgruppe unter der Verwaltungshoheit der Republik China mit starker militärischer Präsenz, aber mit einer Fläche von 150 Quadratkilometern -- fünfmal größer als
Matsu -- hat Kinmen auch einen höheren Finanzbedarf. 1991 betrug Kinmens Etat 700 Millionen NT$ (25 Millionen Euro), stieg 1999 auf 4,8 Milliarden NT$ (171 Millionen Euro) und ein Jahr später auf 5,7 Milliarden NT$ (203 Millionen Euro). Wegen der unzureichenden Zuschüsse läuft die Entwicklung der Matsu-Inselgruppe auf Sparflamme, und bis heute ist die Wachstumsrate weit niedriger als beim Rest von Taiwan.
Das Nachlassen der Spannungen über die Taiwanstraße und die schrittweise Straffung der Streitkräfte Taiwans haben Matsus hauptsächliche Rolle als Militärfestung tiefgreifend verändert. 1992 wurden die Inseln ziviler Kontrolle unterstellt. Die Einwohner von Matsu und Kinmen genießen heute die gleichen Rechte wie alle anderen Bürger der Republik China, darunter das Recht auf Teilnahme an lokalen und nationalen Wahlen sowie Freizügigkeit zwischen Taiwan und den küstennahen Inselgruppen.
Doch auch nach der Aufhebung des Kriegsrechts hängt Matsus Wirtschaft weiterhin vom Militärpersonal ab, dessen Stärke von der Höchstzahl 40 000 Mann im Jahre 1970 auf heute rund 10 000 reduziert wurde. Dieser Abbau war ein schwerer Schlag für viele der einheimischen kleinen Unternehmen, besonders in der Gastronomie- und Unterhaltungsbranche. Bis vor kurzem war Matsus Bevölkerungszahl rückläufig -- vor dreißig Jahren betrug die Bevölkerung 17 000 Menschen, heute sind es nur noch 6000.
Der Niedergang des Dienstleistungssektors sowie der Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten und höheren Bildungseinrichtungen vor Ort hatte bei jungen Leuten einen Massenexodus zur Folge. Die Liste von Matsus traditionellen Wirtschaftsbranchen liest sich wie ein trauriger Kommentar über die Gründe, wegen denen junge Menschen ihr Glück lieber woanders versuchen möchten: Fischerei, einfache Landwirtschaft, Herstellung von Kaoliang-Schnaps aus Sorghum. Zur Zeit arbeiten die meisten Einwohner entweder im öffentlichen Dienst oder betreiben kleine Unternehmen.
“Alle meine Geschwister sind nach Taiwan gezogen, und von meinen Freunden ist nur noch einer hier”, klagt der 25 -jährige Chen Yen-hsu, Angestellter in einem lokalen Gemeindebüro. “Das Leben hier ist kreuzlangweilig. Meine Eltern wollen, dass ich hier bleibe, aber sobald ich genug Geld gespart habe, möchte ich für mehr Karriereoptionen und ein abwechslungsreicheres Leben nach Taiwan ziehen.” Seine Eltern haben einen Comicheft-Verleih, aber das Geschäft läuft nicht gut und wird immer schlechter.
Abgesehen von der massiven Militärpräsenz kann Matsu noch mit einem anderen, ebenso zweischneidigen Segen aufwarten: Weil die Inseln ziemlich abgelegen sind, ist die Ökologie relativ unversehrt, aber man kommt eben auch nicht so einfach hin. Der Flughafen ist klein und verfügt über kein Instrumenten-Landungssystem, mit dem man einfliegende Propellermaschinen dirigieren könnte. Nach mehreren wetterbedingten tödlichen Abstürzen von Linienmaschinen hatte Matsu bei vielen Menschen den Ruf eines gefährlichen Ankunftsortes. Die Anreise per Schiff kostet viel Zeit, und die Schiffsroute führt durch oft raue Gewässer, vor allem während der Taifunzeit im Sommer und des Wintermonsuns.
Es überrascht daher nicht, dass Kreisvorsteher Liu Li-chyun seine wichtigste Aufgabe in der Verbesserung des Verkehrs zur und auf der Inselgruppe sieht. Der Flughafen auf der Insel Peikan, der zweitgrößten Insel des Archipels, wird gegenwärtig für 700 Millionen NT$ (25 Millionen Euro) modernisiert. Die Start- und Landebahn wird verlegt und verlängert, und für den Landeanflug potenziell gefährliche Hügel werden abgetragen. Der Bau eines komplett neuen Flughafens auf der Insel Nankan soll noch Ende dieses Jahres abgeschlossen werden -- dann können größere und besser ausgestattete Flugzeuge Matsu anfliegen und so die Zahl der verfügbaren Plätze in den Maschinen verdoppeln.
Momentan deckt nur ein Schiff die Seeroute zwischen Matsu und dem nordtaiwanischen Hafen Keelung ab. Die Tai Ma bietet recht spartanischen Komfort, und Liao Yuan-long, Generaldirektor der Verwaltung des Landschaftsgebiets Matsu im Ministerium für Verkehr und Kommunikation der Republik China, empfiehlt dringend die Installierung eines Kasinos, einer Disco und einer Karaoke-Bar an Bord, damit die sieben- bis achtstündige Überfahrt kurzweiliger wird. In Anerkennung der belebenden Wirkung von Konkurrenz versucht Liao auch andere Schiffsgesellschaften zur Aufnahme des Passagierverkehrs auf dieser Route zu ermuntern.
Nach der sicheren Ankunft auf Matsu sind die Probleme der Besucher noch lange nicht vorüber. Die öffentlichen Busse verbinden nur die Städte und Gemeinden, erweiterte Routen zu Sehenswürdigkeiten gibt es nicht. In den Wintermonaten wird der Bootsverkehr zwischen den Inseln wegen hohen Seegangs oft eingestellt. Liao, selbst Bürger von Matsu, drängt daher die Lokalverwaltung, zur Verbesserung des Transfers zwischen den Inseln mit zivilen Hubschrauberbetreibern zusammenzuarbeiten und Busse zum Herumfahren von Touristen anzuschaffen.
Eine Reihe von anderen laufenden Infrastruktur-Entwicklungsprojekten soll den Inseln auf die Beine helfen: Straßen, Stauseen, Telekommunikation, Hafenpiers und Sehenswürdigkeiten sollen durch die Bank verbessert werden. Liu merkt an, dass diese Pläne schon ein ermutigendes Resultat gezeitigt haben -- in den letzten zwei Jahren hat die Bevölkerung der Inseln nach einer langen Periode des Rückgangs wieder zugenommen.
Was wird die Zukunft für Matsu bereit halten? “Zur Zeit ist die lokale Wirtschaft immer noch sehr vom Konsum der Soldaten hier abhängig”, teilt Liu mit. “In der nahen Zukunft wollen wir jedoch den Schwerpunkt auf Tourismus und direkte Verkehrsverbindungen mit dem Festland legen.” Das touristische Potential des Archipels sieht Liu besonders optimistisch. “Man kann Matsu als das letzte Shangri-la betrachten. Es war viele Jahrzehnte lang von der Außenwelt abgeschlossen und hat auch keine industrielle Umweltverschmutzung erlitten, deswegen sind Ökologie und die Küstenlandschaft intakt. Das reiche kulturelle und historische Erbe des Min-Flussdeltas ist auch etwas für Touristen. Matsu ist irgendwie ein verschlafener Ort, wo die Menschen in aller Ruhe Blumen betrachten oder Kaffee schlürfen können, anstatt hektisch von einem Souvenirladen zum nächsten zu hetzen und dann wieder in den Reisebus zu springen.”
Viele Taiwaner haben heute auch mehr Freizeit als früher, und manche von ihnen nutzen diese Zeit, um ihre Heimat besser kennenzulernen. “Die Naturschönheit dieser Inseln ist wirklich beeindruckend”, schwärmt Rose Chang, die mit ihrem Mann und den zwei Kindern zum ersten Mal Matsu besucht. “Es ist einfach phantastisch! Hier gibt es Dinge, die ich sonst noch nirgendwo gesehen habe: unterirdische Gänge, Schlachtfeldrelikte, traditionelle Dörfer mit uralten Granitbauten. Ob ich noch mal wiederkomme? Na klar!”
Es gibt aber noch Mängel. Wegen unzureichender öffentlicher Verkehrsmittel muss Rose Chang mit ihrer Familie die Insel entweder mit einem Taxi erkunden, was pro Stunde umgerechnet rund 20 Euro kostet, oder auf gemieteten Mopeds, was wegen des hügeligen Terrains nicht ganz ungefährlich ist. Auch sind die Changs enttäuscht von der geringen Zahl von anständigen Hotels und Restaurants. “Mehrere unserer Mahlzeiten bestanden aus Instantnudeln in unserem Hotelzimmer.”
Chen Sai-hsiang eröffnete vor vier Jahren auf Nankan das erste Hotel, denn nach der Rückkehr der Inseln zu ziviler Herrschaft rechnete sie mit einem lebhafteren Geschäft. “Im Moment sind unsere besten Kunden immer noch Militärpersonal und ihre Angehörigen”, verrät sie. “Es kommen noch nicht so viele Touristen. Ich denke, wir haben nicht genügend Freizeiteinrichtungen und Verkehrsmittel, damit Touristen aus Taiwan sich auf den relativ weiten Weg hierher machen.” Im Sommer sind die Buchungszahlen einigermaßen gut, aber der Winter ist Saure-Gurken-Zeit. Chen und ihr Mann kommen auch nur deswegen über die Runden, weil sie auf Personal verzichten und alles selbst machen.
Kreisvorsteher Liu Li-chyun streitet auch nicht ab, dass die Inseln wegen der mangelhaften Infrastruktur für den Tourismus noch nicht reif sind. Erste Studien über die touristische Aufnahmekapazität ergaben, dass pro Tag nicht mehr als 5000 Besucher kommen sollten. “Wir wollen nicht den gleichen Fehler machen wie Kinmen und Tourismus fördern, bevor wir dafür eingerichtet sind”, gelobt er. “Wir wollen Qualität bieten, damit die Gäste auch gern wiederkommen.” Über Kinmen weiß Liu bestens Bescheid. Als Kinmens Truppenkontingent reduziert wurde und die Inseln für den Fremdenverkehr geöffnet wurden, stiegen die Besucherzahlen von 20 000 Gästen im Jahr sprunghaft auf 200 000 an. Wegen der minderwertigen Einrichtungen dort hat der Tourismus nach Kinmen in der letzten Zeit jedoch abgenommen.
Das Verkehrsministerium will in diesem Jahr einen vierjährigen Entwicklungsplan mit einem Umfang von einer Milliarde NT$ (35,7 Millionen Euro) starten. Das Geld ist vor allem für die Renovierung und Verwaltung von Sehenswürdigkeiten und dazugehörigen Einrichtungen, für die Ausbildung von Fremdenführern und die Produktion von Tourismusliteratur bestimmt. Die Verwaltung des Landschaftsgebietes Matsu des Ministeriums will der Lokalverwaltung bei der Erhaltung ökologischer Ressourcen und historischer Gebäude ebenfalls unter die Arme greifen.
Liao Yuan-long von der Verwaltung des Landschaftsgebietes Matsu weist auf die zahlreichen einzigartigen Eigenschaften der Inseln hin. Abgesehen von der atemberaubenden Küstenlandschaft gibt es traditionelle Dörfer mit der für den Ostteil Fujians charakteristischen Architektur, also Granithäuser mit Ziegeldächern. Es gibt auch Schlachtfeldrelikte, Leuchttürme, alte Tempel, Steininschriften und natürlich überall Militäreinrichtungen. “Heutzutage ist nicht mehr strittig, dass die Zukunft der küstennahen Inseln im Tourismus liegt, vor allem wenn man den abnehmenden Konsum des Militärs bedenkt -- die Streitkräfte waren früher für die meisten Insulaner die Haupteinnahmequelle”, bemerkt Liao. “Man muss eben nur wissen, was man in die Reiseangebote reinpackt und wie man die notwendigen Einrichtungen und Dienstleistungen verbessert.”
Lange Zeit wurde Matsu nicht vom Gesetz, sondern von Menschen (meist Militärs) regiert, und obwohl das Kriegsrecht schon vor Jahren aufgehoben wurde, blieben viele Beschränkungen in Kraft. “Früher war die militärische Bereitschaft und Verteidigung die höchste Priorität der Kreisverwaltung Lianchiang”, sagt Liao. “Bestimmte Restriktionen für die Zivilbevölkerung waren daher unumgänglich. Nach dem Nachlassen der Spannungen über die Taiwanstraße hat sich die Lage hier aber geändert. Die Streitkräfte müssen umdenken und noch mehr Regelungen lockern.”
Viele der schönsten Landstriche der Insel unterliegen immer noch der militärischen Kontrolle, dürfen also von Zivilisten weder betreten noch fotografiert werden. Liao möchte, dass in Zukunft nur noch strategisch wirklich wichtige Zonen militärische Sperrgebiete bleiben. Auch sollen nach seinem Willen wie in Kinmen militärische Einrichtungen von Touristen besichtigt werden dürfen, denn dadurch könnten die Taiwaner besser die Entbehrungen nachvollziehen, die die auf Matsu stationierten Soldaten zur Landesverteidigung auf sich nehmen müssen. Liao behauptet, dass seine Anregungen von den Militärbehörden positiv aufgenommen wurden, aber natürlich bleibt abzuwarten, was sich in der Praxis tun wird.
Auf Matsu gibt es viele herrliche Beispiele der traditionellen Architektur Südchinas, und einige engagierte Einheimische haben sich zusammengetan, um bei der Erhaltung der Architektur zu helfen. Tsao Yi-hsiung, Mitglied des Kreisrates Lianchiang, ist einer der aktivsten Organisatoren. “Denkmalschutz ist viel schwieriger als Neubau, und man darf dabei auch nicht zögern, sondern muss ans Werk gehen, bevor es zu spät ist”, unterstreicht er. Er stieß dabei aber auch auf viel Skepsis. “Manche Leute halten mein Handeln wegen der schlechten Wirtschaftslage für absurd, und sie fragen, was die Bewahrung dieser historischen Gebäude bringt. Man darf aber nicht müde werden zu betonen, dass die Menschen auch wirtschaftlich von Kultur profitieren können.”
Tsao glaubt, dass diese historischen Gebäude nach einer Renovierung an Touristen vermietet werden können, die wissen möchten, wie man in der alten Zeit lebte. In manchen alten Häusern könnte man auch Teehäuser, Cafés, Künstlerateliers oder Treffpunkte für gesellschaftliche und kulturelle Veranstaltungen einrichten. “Viele Leute wollen zurück zu einem einfachen Leben und die Natur genießen”, behauptet Tsao. “Sie wollen mal abschalten. Alte Häuser sind dafür ideal. Wir wollen eines Tages sagen können, dass Taiwan zwar wohlhabend ist, Matsu dagegen Lebensqualität bietet.”
Einige Einheimische sind voller Enthusiasmus. “Entwicklung und Tourismusprojekte können jederzeit begonnen und Schritt für Schritt ausgeführt werden”, verkündet Cheng Chih-jen, der nach seinem abgeschlossenen Architekturstudium zwei Jahre als Soldat auf Matsu stationiert war und heute auf einer der Inseln lebt. “Wenn aber die traditionellen Dörfer verloren gehen, dann wird der Verlust unwiederbringlich sein. Diese historischen Stätten sind Matsus einzigartiges Markenzeichen und verdienen es, dass man sie den Touristen zeigt. Matsu kann nur dann ein internationales Tourismusziel werden, wenn man Ressourcen wie diese optimal ausnutzt.” Die Kreisverwaltung Lianchiang hat sich kürzlich dem Trend angeschlossen und richtete eine Sonderkommission für Denkmalschutz und dazugehörige Verbesserungsprojekte ein.
Matsu hat auch das Potential eines Ferienortes für Freizeitfischer. Lin Jih-fu, Vorsteher der Gemeinde Tungyin auf der gleichnamigen Insel, macht jedoch darauf aufmerksam, dass in den letzten Jahren immer mehr festlandchinesische Fischerboote in die Hoheitsgewässer der Republik China eingedrungen sind. Die festlandchinesischen Fischer sacken mit ihren Netzen nicht nur einen großen Fang ein, sondern verwenden auch oft Sprengstoffe, wozu Fischer aus Matsu sich nie herablassen würden. Diese Praktiken haben den Fischbestand drastisch reduziert und über die Meeresökologie der Gegend einen bedrohlichen Schatten geworfen.
“In der alten Zeit haben wir gesagt, das Meer ist unser Kühlschrank”, erinnert sich Lin. “Wenn wir Gäste hatten, gingen wir einfach zum Ufer und fingen uns Fische, Krabben, Muscheln und Garnelen für ein festliches Mahl. Wegen dieser festlandchinesischen Fischer und ihrer illegalen Fangmethoden ist aber kaum noch Fisch übrig.” In Lins Gemeinde ist die Zahl der hauptberuflichen Fischer von 200 im Jahre 1990 auf heute 20 zurückgegangen.
Nach Lins Vorstellungen sollte die Küstenwache zum Schutz der Hoheitsgewässer der Republik China häufiger Patrouille fahren. Die Marinetruppen der Insel sollten bei Missachtung wiederholter Warnungen festlandchinesische Fischer festnehmen sowie ihre Boote und Ausrüstung beschlagnahmen, fordert er. “Der Schutz unserer Meeresressourcen ist zu unserer Hauptpriorität geworden. Es muss sofort etwas geschehen.”
Eine Öffnung direkter Verkehrsverbindungen mit dem chinesischen Festland wäre eine andere Möglichkeit zur Mehrung von Matsus Wohlstand. Kreisvorsteher Liu Li-chyun betont, diese Verbindungen seien notwendig und hätten schon längst in die Wege geleitet werden sollen. “Sie werden bei der Förderung des bilateralen Wirtschafts- und Handelsaustausches eine beträchtliche Rolle spielen”, prophezeit er. “Sobald diese Verbindungen erst mal in Betrieb sind, können wir die folgenden Kontakte schrittweise für eine Beilegung der politischen Krise nutzen.”
Die Bildung von Handelsbündnissen ist ein globaler Trend, wie Liu unter Hinweis auf die EU bemerkt. Bei richtiger Planung könnte die Regierung der Republik China Matsu und Kinmen in Umschlagplätze à la Hongkong verwandeln und dort Verkaufszentren für taiwanische Produkte einrichten -- Zielgruppe wären dann die Millionen von Menschen, die in der Küstenregion der festlandchinesischen Provinz Fujian leben.
“Tourismus und direkte Verbindungen mit dem Festland sind die beiden Hauptziele, die wir hier auf Matsu anvisieren sollten”, bekräftigt Liu. “Nur so kann Matsu sich eine bessere Zukunft schaffen und für die Regierung zu dem Huhn werden, das goldene Eier legt, anstatt weiterhin am Finanztropf des Staates zu hängen.” Unterdessen muss Matsus schrumpfende Bevölkerung durchhalten und hoffen, dass bei entsprechender Förderung durch die Regierung die Touristen dann auch kommen werden.